Photo by Veronica Burgstaller

Der balinesische Völkermord: Erzählt von I Made Susantha Balian und seiner Enkelin

Vor kurzem fand Veronica heraus, dass ihr Großvater Zeitzeuge eines historischen Völkermords in Bali, Indonesien, ist. Von ihrer Familie ermutigt, führte sie ein Interview mit ihm. Dies ist seine Geschichte.
Indonesia, Southeast Asia

Eine Geschichte von I Made Susantha Balian. Übersetzt von Veronica Burgstaller
Veröffentlicht am October 4, 2021.

Diese Geschichte ist auch verfügbar in GB it



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In meiner Kindheit verbrachte ich viele Jahre in Indonesien - in Sulawesi, Bandung und Bali. Ich war meist zu jung, um mich für Politik zu interessieren oder ein Verständnis des sozialen und politischen Hintergrunds von Indonesien zu haben. Manchmal tauchten die Namen Sukarno und Suharto in den Gesprächen zwischen meinen Eltern, Onkeln, Tanten und Großeltern auf. Als ich aufwuchs, wusste ich nur, dass meine Großtanten und Großeltern einen Regierungswechsel miterlebt hatten, der nicht friedlich verlaufen war. Dann, vor ein paar Monaten schickte mir mein Vater einen Artikel zu den Massakern auf Bali, die während des Regimewechsels 1965-66 stattgefunden hatten, und erzählte mir, dass mein Großvater zu dieser Zeit auf Bali gelebt hatte. Ich vergewisserte mich zunächst bei meinem Onkel und meiner Tante, denn es war ziemlich unglaublich zu erfahren, dass mein eigener Großvater Zeuge eines historischen Völkermordes war [1]. Sie bestätigten die Information und ermutigten mich, ihn zu interviewen. Dies ist seine Geschichte.

"Ich bin I Made Susantha Balian und wurde am 12. Februar 1949 in einem kleinen Dorf nördlich von Bali, in Tamblang, geboren. Ich lebte bis 1973 auf Bali. Unsere Familie war im Besitz von ein paar Stücken Land. In der Sprache der Klassenstruktur gehörten wir zur Klasse der Landherren. Ein Stück Land in Tamblang besitze ich noch heute. Obwohl mein Hauptwohnsitz in Bandung, Java, ist, kehre ich mindestens einmal im Jahr zurück, um das Land zu pflegen und Freunde und Verwandte zu besuchen. Heutzutage habe ich ein gutes Verhältnis zu meinen Verwandten, aber das war nicht immer so. In den 1960er Jahren konkurrierten drei große Parteien um die Macht: die Kommunistische Partei (PKI), die Nationalistische Partei (PNI) und die Muslimische Partei [2]. Im Jahr 1965 kam es in Indonesien zu einem von Suharto und seiner PNI angeführten Staatsstreich gegen die PKI. Da mein Vater Mitglied der PNI war, trat ich natürlicherweise auch der PNI bei.

Bis 1963 herrschte auf Bali noch Frieden. Im Jahr 1964 begann ich mein zweites Jahr an der Oberschule. Aber nach dem Putsch am 30. September 1965 [3] änderte sich die Situation auf Bali grundlegend. Nach der Schule mussten wir Schüler direkt nach Hause gehen. Es gab eine Ausgangssperre (Jam Malam), was bedeutete, dass wir nach sechs Uhr abends zu Hause bleiben mussten. Die Polizei patrouillierte in der Nachbarschaft, um sicherzustellen, dass niemand draußen war. Da ich Mitglied der PNI war, hatte ich nicht allzu viel zu befürchten, solange ich zu Hause blieb.

Die Ereignisse, die sich 1965 in Jakarta abspielten, wirkten sich auch auf Bali aus. Es kam fast zu Gewaltausbrüchen, und viele Mitglieder der PKI wurden auf Bali festgenommen. Auch in Tamblang wurden PKI-Mitglieder verschleppt. Etwa 30 Personen wurden abgeführt und kamen nie wieder zurück.

Ich war damals erst sechzehn Jahre alt. Die Situation war sehr beängstigend. In den frühen Morgenstunden erschienen Fremde. Sie waren nicht von unserem Dorf. Diese Leute versammelten die Mitglieder der PKI auf einer großen offenen Fläche in der Dorfmitte. Um drei Uhr nachmittags wurden die PKI-Mitglieder in einen Lastwagen verfrachtet, und dann waren sie weg. Ich wusste nicht, wer sie mitgenommen hatte und wohin sie gebracht wurden. Alles, was ich jetzt weiß, ist, dass es das letzte Mal sein würde, dass ich sie sah.

 

Sie waren zwar Mitglieder der PKI, aber sie taten mir leid. Gleichzeitig hasste ich sie aber auch.

Ich konnte mich nicht von ihnen verabschieden, denn ich hatte Angst. Sie waren zwar Mitglieder der PKI, aber sie taten mir leid. Gleichzeitig hasste ich sie aber auch. Denn sie bedrohten meinen Vater und mich ständig mit Worten. Sie drohten, sie würden uns töten und das Land meiner Familie besetzen. Dann würden sie unser Land unter sich aufteilen. Ihrer Meinung nach gehört das Land dem ganzen Volk. Müsste ich die PKI beschreiben, dann ist sie eine Partei, der jegliche Menschlichkeit fehlt.

Als die Leute aus meinem Dorf weggebracht wurden, war ich auch sehr traurig. Tamblang ist ein kleines Dorf und wir sind alle miteinander verwandt. Mein Lehrer und viele meiner Freunde sind verschwunden. Viele Male in meinem Leben habe ich mich gefragt: Wo sind sie und was ist mit ihnen geschehen? Aber selbst mein Vater sagte mir damals, ich solle schweigen und aufhören, Fragen zu stellen.

 

Ich kann mich nicht auf die Erinnerungen der Menschen an Vorgänge verlassen, die mehr als fünfzig Jahre zurückliegen.

Ich bemühe mich nicht mehr, herauszufinden, wer die PKI-Mitglieder weggeführt hat und was mit ihnen geschehen ist. Warum? Nach meiner Meinung gibt es zu viele Hypothesen über die damaligen Ereignissen, und ich kann mich nicht auf die Erinnerungen der Menschen an Vorgänge verlassen, die mehr als fünfzig Jahre zurückliegen. Ich möchte nur, dass die Menschen aus dieser Zeit lernen. Lernen, dass man, wenn man einer Partei beitritt, deren Ideologien nicht zu fanatisch ergreifen sollte.  Es gab so viele Opfer. Letztendlich sind wir, die Bürger, die Leidtragenden."

Als ich meinen Großvater befragte, fielen mir viele Unstimmigkeiten in seinen Aussagen auf. Er sagte eine Sache, aber ein paar Minuten später etwas, das im Widerspruch zu seiner vorherigen Aussage stand. Diese Ambivalenz erkannte ich auch in dem Dokumentarfilm "The Act of Killing" - ein Film, den ich jedem ans Herz legen möchte, der mehr über die Geschehnisse in dieser Zeit erfahren möchte. Er gab auch zu, dass er nur ungern darüber sprechen würde, wenn ich nicht ausdrücklich um dieses Interview gebeten hätte. Er meinte, dass es für ihn eine so dunkle Zeit war. Daher war ich überrascht, dass mein Großvater überhaupt bereit war, sich interviewen zu lassen und auch einverstanden war damit, seinen Namen und sein Foto zu veröffentlichen. Dennoch verlief das Interview nicht so reibungslos, wie ich erwartet hatte. Mein Großvater antwortete immer nur knapp , und obwohl ich im voraus einige Fragen vorbereitet hatte, wurde mir klar, dass ich im Laufe des Gespräches weitere sehr spezifische Fragen formulieren musste, um überhaupt etwas zu erfahren.

 

Die Unterscheidung zwischen unbeteiligtem Zuschauer und Kollaborateur ist nicht eindeutig.

Da ich mit einer westlichen Erziehung aufgewachsen bin, sehe ich den Bericht meines Großvaters aus westlicher Sicht. Ich kann mir diese Widersprüche nur als einen inneren Kampf derjenigen Menschen erklären, die diese Zeit miterlebt haben und mit ansehen mussten, wie ihre Angehörigen entweder umgebracht oder verschleppt wurden. Die Unterscheidung zwischen unbeteiligtem Zuschauer und Kollaborateur ist nicht eindeutig, und diese Ereignisse müssen bei ihnen eine Art Trauma hinterlassen haben. Viele, die an den Massakern und an der Verfolgung der so genannten Kommunisten beteiligt waren, leben weiterhin ungestraft und befinden sich sogar in Machtpositionen. Irgendwie glaube ich, dass mein Großvater wusste, was mit denen geschah, die abgeführt wurden. Sie wurden umgebracht. Die Geschichte meines Großvaters ist vielleicht zu "normal" für eine so schicksalhafte Zeit, aber viele Menschen trauen sich immer noch nicht, darüber zu sprechen. Es kann nicht bewiesen werden, ob mein Großvater versucht hat, bestimmte Vorfälle zu verdrängen. Das Interview hat mich jedenfalls dazu gebracht, mehr über diese Ereignisse in Indonesien und auf Bali zu erfahren. Leider sind die Dokumente der indonesischen Regierung über die Verfolgung und Ermordung von PKI-Mitgliedern immer noch unzugänglich [4]. Der Aufarbeitungsprozess schreitet nur langsam voran, und es sind Menschen wie mein Großvater, die ein Vorbild für andere sein können, sich zu Wort melden und und über die jüngste Vergangenheit Indonesiens aufzuklären. Ich hoffe, dass seine Geschichte zumindest dazu beitragen wird, dass sich mehr Menschen für die Geschehnisse in Indonesien 1965 interessieren.


[1] In Indonesien werden die Ereignisse immer noch nicht als "Völkermord", sondern als "Massenaufstand" betrachtet. Es ist jedoch anzumerken, dass ein derartig umfassendes Blutbad nur durch koordinierte Aktionen von oben (Militär und Regierung) möglich war. Für weitere Informationen über den Putsch und die Massaker empfehle ich die folgenden Artikel: https://www.theguardian.com/books/2018/mar/15/killing-season-geoffrey-robinson-army-indonesian-genocide-jess-melvinreviews; https://www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/14623528.2017.1393942

[2] Partai Komunis Indonesia (PKI - Indonesische Kommunistische Partei), die Partai Nasional Indonesia (PNI - Nationale Partei Indonesiens) und die Nahdlatul Ulama (Muslimische Partei)

[3] Die Bewegung des 30. September bezieht sich auf den Staatsstreich gegen Sukarno in Jakarta, der anschließend zur Verfolgung der Kommunisten führte. Für weitere Informationen: https://www.sciencespo.fr/mass-violence-war-massacre-resistance/fr/document/indonesian-killings-1965-1966.html

[4] Man geht davon aus, dass in ganz Indonesien bis zu zwei Millionen Menschen im Name des Kampfs gegen den Kommunismus getötet wurden und mehrere Tausend Menschen auf der kleinen Insel Bali: https://www.smh.com.au/world/australian-journalist-frank-palmos-first-witness-to-1965-indonesian-massacre-20151002-gjzjjn.html; https://theclassicjournal.uga.edu/index.php/2020/05/12/bite-sized-bali-grown-in-genocide-consumed-by-capitalism/


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I Made Susantha Balian is Balinese, born in the small village of Tamblang, Bali on 12th February 1949.

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